DIE GEBURT DER BEDEUTUNG JÜRGEN FERDINAND SCHLAMP
GOETHE-INSTITUT MÜNCHEN 2018
Einführung zur Ausstellung: Hubert Eichheim, Athen
In der sichtbaren Natur gibt es keine Zwei-Dimensionalität. Körper sind immer drei-dimensional. Papier, auch wenn es noch so dünn ist, besteht aus drei Dimensionen. Erst wenn jemand etwas auf das Papier zeichnet oder malt, befinden wir uns plötzlich in der vom Menschen gemachten Zweidimensionalität. Striche, Farbflecke, Schriften, Pläne, Berechnungen, die dann auf dem Papier oder auf Leinwand stehen, sind immer Analogien. Die Abbildungen von Menschen, Tieren, Gegenständen oder gar die geschriebenen Texte, mathematischen Formeln sind ja nicht die Dinge, die Wirklichkeiten selber. Sie sind immer Produkte menschlichen Handelns. Das war schon bei den ersten Höhlenzeichnungen so, bei den Schriftzeichen von ihren Anfängen bis heute und erst recht bei künstlerischen Darstellungen, wie wir sie in den Arbeiten von Jürgen Ferdinand Schlamp vorfinden.Solche Bilder stellen bisweilen nichts dar, sie bilden scheinbar nichts ab und beschäftigen doch unser Auge und dahinter unsere Gehirnfunktionen auf der Suche nach Bedeutsamkeit und Genuss. Was dabei ablaufen kann, habe ich ausgerechnet bei mehreren Besuchen bei meinem Zahnarzt erfahren. Dieser war mit seiner Praxis umgezogen und hat die Behandlungsräume mit besonderer Sorgfalt eingerichtet. Kaum wurde ich auf dem Behandlungsstuhl in die Waagrechte gelegt, blickte ich auf eine an der Decke befestigte Tafel mit aufgeklebtem Foto eines Südseestrandes mit Palmen, blauem Meer und einer Lagune in der Ferne, ein Foto, wie sie von Reisebüros verwendet werden, um entsprechende Reisen mit dem Titel „all inclusive“ zu verkaufen. Wider Erwarten machte mir das Bild keine Südseereise schmackhaft, sondern erinnerte mich im Gegenteil an einen gerade erlebten verkorksten Abend. Ich war von einem befreundeten Paar eingeladen, das gerade von seiner Hochzeitsreise in die Südsee zurückgekehrt war, wo der Mann mit seiner Super Acht Kamera seine vom jungen Eheglück beschwingten Eindrücke festgehalten hatte, die mir dann in endlosen Projektionen während des gesamten Abends vorgeführt worden waren.
Ich lag also nun da auf dem Behandlungsstuhl und musste eine ganze Stunde lang während der Zahn Behandlung den vorausgegangenen todlangweiligen Abend noch einmal durchstehen. Das Bild bekam für mich dadurch eine völlig andere Bedeutung als die ursprünglich vorgesehene. Ein Jahr später war das Foto an der Decke durch ein so genanntes Wimmelbild ersetzt, auf dem ein Zeichner den Skibetrieb auf dem Sudelfeld karikiert hatte. Damit konnte ich mich amüsieren, die einzelnen Szenen isolieren und sie mit meinen Erfahrungen beim Skilaufen vergleichen. Auch dieses Bild hat seine Bedeutung durch mich, den Betrachter, erfahren, allerdings mit Hilfe des Zahnarztes und vor allem des Zeichners. Verschiedene Faktoren wirkten gemeinsam oder nacheinander auf mich, indem ich mich rational und emotional mit ihnen auseinandersetzte.
In dem Wort Bedeutung
befindet sich der Wortstamm „deut“. Ich, der Betrachter, deute das Gesehene,
mache bestimmte Elemente für mich deutlich und gebe ihnen damit Bedeutung.
„Geburt der Bedeutung“ hat Jürgen Ferdinand Schlamp diese Ausstellung genannt
und damit seine von ihm geschaffenen Kunstwerke dem Betrachter zur Verfügung
gestellt, dessen Deutung letztlich für die Rezeption ausschlaggebend ist.
Bedeutung ist demnach nie etwas von sich aus Existierendes. Bedeutung setzt
immer einen denkenden, empfindenden und handelnden Menschen voraus.
Ich stelle mir eines
der drei Bilder an der Decke der Zahnarztpraxis vor. Bis die Helferin kommt und
mit der Reinigung des Zahnfleisches beginnt, bleibt dem Patienten nichts
anderes übrig, als sich mit dem Bild zu beschäftigen, das durch seine formale
und farbliche Zurückhaltung zunächst keineswegs sich aufdrängt, aber gerade
deshalb eine Deutung verlangt. Der Betrachter unternimmt nun eine Wanderung
durch das Bild. Versucht Regelmäßigkeiten zu erkennen. Vielleicht bleibt er an
den unterschiedlichen Formen der figürlichen Zeichen hängen, stellt die
Ähnlichkeiten fest, untersucht die Verteilung der Farben und landet schließlich
bei der folgenden Feststellung: Deutlich erkennbare einfache Zeichen werden
innerhalb eines quadratischen Rahmens mit gleichen Abständen nach links und
rechts, nach unten und oben in Reihen angeordnet. Jürgen Ferdinand Schlamp in
seiner Rolle als Geburtshelfer formulierte dazu: „Während die Zeichen ohne
Zögern rasch wahrgenommen werden können, bleiben die weißen Abstandszonen
zwischen den farbigen Zeichen zunächst schwer definierbar. Man versucht
fortlaufend Beziehungen herzustellen zwischen den einzelnen Zeichen und ihrer
Umgebung. Bei ähnlichen Formen und Farben wirken auch die Zwischenräume anders
als bei fehlender Übereinstimmung. Dasselbe Motiv mit identischen Zeichen finden Sie auch in einigen
der Bilder auf viel kleinerem Format in diesem Korridor. Es lohnt sich auch
darüber zu reflektieren, welche Wirkung der Rahmen und auch das Format
hervorbringen.
Über die zunächst passiv wahrgenommene Wirkung lassen wir in der nächsten Stufe dem Ganzen unsere individuelle Bedeutung zukommen und die ist auch emotional geladen. Bedeutung ist immer Handlung und individuell. Wir sehen die Wirklichkeit nicht, sondern wir schaffen sie durch Denken und Fühlen. Wenn sich nun beim Betrachter in Laufe des Deutungsprozesses auch Empfindungen einstellen wie angenehm, entspannt, fließend, beruhigend, irritierend, spannend, ruhig, oszillierend, befinden wir uns im Bereich der Ästhetik. Diese Zusammenhänge zwischen dem künstlerischen Schaffen und philosophischen Reflexionen sind typisch für die Arbeitsweise von Jürgen Ferdinand Schlamp. Nicht zufällig begleitet diese Ausstellung die Bildschirm-Projektion von Zitaten, auf die Jürgen Schlamp bei seiner Lektüre in den vergangenen Jahren gestoßen ist und die ihn in seiner künstlerischen Arbeit befruchtet haben.
Dies ist heute die zwölfte seiner Ausstellungen, die ich durch meine deutenden Bemerkungen begleite. Es begann mit gegenständlichen Darstellungen von griechischen Landschaften in Acryltechnik. Der gemeinsame Aufenthalt in Griechenland hat uns damals zusammengeführt. Das Stillleben eines Blumenstücks aus Hortensien leitete dann die nächste Phase ein, als er Figuren und Strukturen isoliert hat und damit dem Betrachter den Begriff Blume oder konkreter Hortensie entzogen hat. Seine Bilder waren von da ab keine Abbildungen mehr, sondern eine Ansammlung von gegenstandslosen Figuren, die aufeinander bezogen eine andere Herangehensweise des Betrachters erforderten.
Statt der Wiedererkennung des dargestellten Gegenstands wird die Wahrnehmung auf eine aufregende Weise so herausgefordert, dass sie gleichzeitig die emotionale aber auch die rationale Seite anspricht und damit der bildlichen Darstellung Bedeutung verleiht. Hinter jeder Wirklichkeit befindet sich nämlich eine Reihe von Systemen, die bei der Beobachtung wirksam werden, präzise gegen vage Elemente, Eindeutiges gegen Mehrdeutiges, Klares gegen Unklares, Spannung gegen Entspannung, Ying gegen Yang.